Der beste aller Ministerpräsidenten hat in den vergangenen Tagen viel Kritik einstecken müssen – zu Unrecht, wie ich finde.
Deshalb hier fünf Gründe, warum ich sein Vorgehen für Thüringen richtig finde:
1. Das Mißverständnis der „Lockerungen“
Zunächst einmal: Es soll und muss auch nichts „gelockert“ werden. Denn die Verordnungen haben alle ein automatisches Verfallsdatum. Hier konkret: Wird bis dahin nichts Neues beschlossen, tritt die Thüringer „Corona-Verordnung“ mit Ablauf des 5. Juni automatisch außer Kraft. Es muss also keine „Lockerung“ beschlossen werden, man kann die Verordnung auch einfach auslaufen lassen.
Aber so radikal ist es gar nicht nötig. Man kann in eine neu zu beschließende Verordnung natürlich wesentlich weniger einschränkende Maßnahmen aufnehmen als bisher. Sinnvoll und weiterhin nötig sind sicher z. B. die Begrenzung für Veranstaltungen. So sind sich die Bundesländer einig, Großveranstaltungen bis zum 31. August zu verbieten. Wo man dabei die zahlenmäßige Grenze zieht, liegt in der Entscheidungshoheit der einzelnen Bundesländer.
Hier nun bei einer Neubeschlussfassung genau zu prüfen, welche Einschränkungen weiterhin nötig sind, und welche nicht, ist für mich nicht nur richtig, sondern unerläßlich.
2. Die sachliche Notwendigkeit
In Deutschland wurden aktuell (Datenstand 26.05.2020) in den letzten 7 Tagen aus 88 Kreisen keine neuen Infektionen übermittelt. Das heißt im Klartext, in all diesen Kreisen gab es seit einer Woche keine bekannte Neuansteckung mehr.
In Thüringen sind 10 Kreise seit 7 Tagen ohne gemeldete Neuinfektionen. 12 Landkreise bzw. kreisfreie Städte weisen weniger als 10 momentan infizierte Menschen auf, im Landkreis Sömmerda gibt es gar keine bekannte Infizierte.
Die Zahl der Neuinfektionen für das gesamte Bundesland ist inzwischen keiner als 10.
So ist es in einigen Regionen inhaltlich schlicht nicht mehr vermittelbar, die aktuellen Maßnahmen weiter aufrecht zu erhalten. Manche Menschen fragen sich völlig zurecht, wovor sie sich eigentlich noch schützen sollen.
(Man sehe als Beispiel mal nach Mecklenburg-Vorpommern: Außer in der Stadt Rostock gibt es seit einer Woche keine Neuinfektionen mehr. Das Bundesland ist nahezu Corona-frei.)
3. Die angedachte Strategie
Nun hat Bodo Ramelow keineswegs vorgeschlagen, alle Maßnahmen einfach für beendet zu erklären, und das Vorhandensein des Viruses zu negieren. Ganz im Gegenteil!
Ein Punkt der neuen Strategie ist die massive Ausweitung von Testungen, z. B. in Schulen und Kindergärten. Hier kam sofort Kritik (u. a. von Virulogen), dass die Testkapazitäten dafür nicht ausreichen würden. Ein kurzer Faktencheck ergibt jedoch sehr schnell ein anderes Bild: Laut den Daten des RKI werden die Testkapazitäten nicht einmal zu 50% ausgenutzt. Seit Wochen vermelden u. a. Thüringer Testlabore, dass sie kaum zu tun hätten, und auf Proben zum Testen warten würden.
Wenn man nun mehr testet, findet man a) schneller und b) umfassender die infizierten Personen, und kann entsprechend schneller und gezielter reagieren.
Ein weiterer (und für mich wichtiger) Punkt ist die Übertragung der Verantwortung an die regionalen und lokalen Ämter. Ein Kritikpunkt an der geplanten Strategie unseres Ministerpräsidenten, der zu teils sehr unsachlichen Anwürfen führte, ist die Tatsache, dass sich zwei Thüringer Landkreise in den deutschlandweiten Top10 der Kreise mit den höchsten 7-Tage-Neuinfektionen befinden. Diese Kreise (Sonneberg und Greiz) machen in der Tat seit Wochen Schlagzeilen als Virengebiete.
Nun entspricht es für mich dem gesunden Menschenverstand, in diesen Regionen schneller und massiver zu intervenieren als bisher. Es ergibt doch überhaupt keinen Sinn, Maßnahmen in ganz Thüringen zu forcieren, wenn erkennbar die Probleme vor Ort sich dadurch nicht bessern. Oder anders ausgedrückt: Wenn ich wie aktuell tatsächlich Realität in Erfurt mit Mundschutz und Mindestabstand einkaufen gehe, aber auch im Landkreis Greiz die Kneipen offen haben, ändert das an der Situation genau gar nichts.
Viel sinnvoller wäre es doch, vor Ort in den beiden Kreisen die Maßnahmen kurzfristig drastisch zu verschärfen, und im nahezu kompletten restlichen Bundesland die meisten Einschränkungen auslaufen zu lassen.
Durch die glücklicherweise inzwischen geringen Fallzahlen ist es doch leicht möglich, auf diese sehr schnell lokal zu reagieren, und eine Ausbreitung frühestmöglich zu unterbinden.
4. Die verfassungsrechtliche Seite
Grundrechtseinschränkungen müssen immer verhältnismäßig sein – und deren Notwendigkeit ist ständig zu überprüfen. Generell dürfen kurzfristig verordnete Einschränkungen nicht über einen langen Zeitraum aufrechterhalten werden.
Die Kritiker von Bodo Ramelows Strategie postulieren nun recht einhellig, dass die Pandemie nicht vorbei sei und auch noch länger bleiben wird. Richtig! Genau das ist ja das Problem dabei.
Aktuell geht man davon aus, dass es bis zu einer ausreichenden Durchimpfung noch mindestens ein Jahr dauern wird. Manche Wissenschaftler meinen sogar, das Virus wird für immer bleiben.
Und so frage ich all jene, die rumkrakeelen (leider kann man das bei manchen „Meinungsäußerungen“ nicht anders nennen), dass man nicht weiter lockern dürfe, solange das Virus noch da ist: Wie lange soll man Eurer Meinung nach denn die Einschränkungen noch aufrecht erhalten? Ein Jahr? Notfalls zwei Jahre? Eventuell für immer? Berufsverbot für die meisten Künstler, nahezu die ganze Eventbranche, die Messebranche, und viele viele mehr? Mannschaftssport nur noch Fußball, weil es da um die meiste Kohle geht? Soziale Isolation auf Dauer, mit allen Konsequenzen für Psyche, kindliche Entwicklung und das Bildungssystem? Dauereinsamkeit für unsere „Risikogruppe“? Wir sperren die Älteren einfach dauerhaft weg, ohne Besuche zuzulassen? Wie weit soll das gehen, und wie lange denn?
Mir persönlich ist meine Freiheit tatsächlich sehr wichtig. Vielleicht auch, weil ich es noch anders kenne.
Und mir ist es allemal lieber, unsere Regierung sorgt für praktikable Gesetze und Verordnungen, als dass die Verfassungsgerichte ihnen ihre Grenzen ständig vorlesen müssen. Das ist ja eher Spezialität der CSU.
Es sind bereits einige Urteile und Verfügungen ergangen, die bestimmte Verbote aufgehoben haben. Die verfassungsgemäße Gesetzgebung ist aber Aufgabe der Regierung, und sollte nicht dauerhaft auf die Gerichte übertragen werden.
Daher ist es meines Erachtens absolut notwendig, mit Augenmaß und Verhälnismäßigkeit vorzugehen.
5. Die moralische Seite
Als vor fast 3 Monaten die teils massiven Einschränkungen eingeführt wurden, erfolgte das ja nicht ohne Begründung.
Zur Erinnerung: Die Gründe waren „flatten the curve“, um die gleichzeitig erkrankten Personen auf eine Anzahl zu begrenzen, welche die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht übersteigt, damit jeder Patient eine ausreichende Behandlung bekommen kann. Dazu sollte dieses ominöse R auf oder besser unter 1 gedrückt werden. Ein anderer Grund war, Zeit zu gewinnen, um die Versorgungskapazitäten auf den Intensivstationen drastisch zu erhöhen.
Wie sieht es nun heute aus: Die Kurve ist flacher als jemals in den positivsten Prognosen erwartet, dieses R liegt laut RKI aktuell bei 0,7.
Die Intensivkapazitäten und Beatmungsplätze in den Krankenhäusern wurden deutlich erhöht, weitere Kapazitäten sind kurzfristig aktivierbar. Die meisten Intensivbetten stehen einfach leer.
Also: Dank der beschlossenen und zumeist eingehaltenen Maßnahmen wurden diese Ziele, die zur Begründung der Maßnahmen dienten, längst erreicht und deutlich übertroffen.
Es gehört zum (leider seltenen) politischen Anstand, die Ankündigungen auch umzusetzen. Angekündigt wurden temporäre Maßnahmen, um die genannten Ziele zu erreichen. Die Anzahl der Erkrankten sollten die Kapazitäten nicht überschreiten. Glücklicherweise sind wir von der Kapazitätsgrenze sehr weit entfernt. Da also die Ziele wie beschrieben erreicht wurden, sind die Maßnahmen entsprechend der Ankündigung bei deren Einführung nun auch wieder zu beenden. Alles andere zerstört meines Erachtens das Vertrauen in die Politik noch mehr als ohnehin schon.