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Archiv für den Monat April 2014

Die Sinnfrage: Was ist der Zweck von Wikimedia Deutschland?

Oder: Eine überfällige Nachbetrachtung zum Board Training Workshop

Am 1. und 2. März fand in London ein Board Training Workshop statt, an dem auch ich als einer von zwei Vertretern des Boards („Präsidium“) von Wikimedia Deutschland teilnahm.

Zuerst: Die Veranstaltung war die erste ihrer Art, und als solche wichtig und richtig. Wohl alle Teilnehmer hatten durch das gut durchorganisierte (und dadurch auch recht anstrengende) Programm viele neue Erkenntnisse gewonnen, und der Erfahrungsaustausch ist enorm wichtig für ehrenamtlich tätige Wikimedianer mit teilweise doch sehr großer Verantwortung.

Der Samstag unterteilte sich dabei in 4 Themen:

  • Die Rolle des Boards und wie sich die Rollen von Boardmitgliedern und Angestellten unterscheiden
  • Wie wirkliche effektive Aufsicht („Governance“) funktioniert
  • Wie eine wirklich professionelle Beziehung zwischen Boardmitgliedern und Angestellten hergestellt wird
  • Wie die Boards über ihre eigene Performance nachdenken sollten

Im Wesentlichen kann man mitnehmen, dass die Rollendefinition sehr wichtig ist. Das bestätigt mich auch in meinem seit einem Jahr bestehenden Verlangen, die Beziehung zwischen Präsidium und vor allem Vorstand besser zu definieren, und gibt mir die wichtige Erkenntnis, dass auch die Beziehung zu den anderen Mitarbeitern der Geschäftsstelle dringend genauer definiert werden muss. Es gibt aktuell einfach zu verschiedene Meinungen, inwieweit sich das Präsidium in die Arbeit der Geschäftsstelle einmischen darf bzw. soll. Dieses Problem besteht wie gesagt seit langem und wurde trotz mehreren Versuchen dies anzugehen nie wirklich gelöst. Ob es hier überhaupt eine zufriedenstellende Konsenslösung geben kann, ist auch noch fraglich.

Weitgehend Einigkeit besteht bei den Hauptaufgaben der Boards: Mission und Vision des Vereins definieren, eine Strategie entwickeln, die Performance und den Erfolg monitoren und Bewertungsmaßstäbe dafür entwickeln und anwenden.
Interessanter fand ich dann schon die folgende Aufgaben der Boards: Die Rechenschaftslegung sicherzustellen, den Geschäftsführer (bei Wikimedia Deutschland den Vorstand) auszuwählen und zu supporten, ein Risikomanagement, die Einhaltung der Spielregeln („Compliance“) sicherzustellen, deren Effektivität zu überprüfen und faire Bewertungen zu gewährleisten.
Über die verschiedenen Wege, die Arbeit des Boards zu optimieren, möchte ich hier nicht schreiben – das wäre zu umfangreich und zu theoretisch und würde den Rahmen sprengen.

Womit ich jedoch nur teilweise übereinstimme, ist der angestrebte Professionalisierungsgrad der Boards: Hier wird laienhafte Arbeit von „normalen“ Mitgliedern der Vereine als störend empfunden und sogar empfohlen, statt Wahlen unter den Vereinsmitgliedern das Board rein durch Akklamationen von „Profis“ zusammenzusetzen. Das würde für mich eine Entwicklung weit weg von der Basis des Vereins, nämlich den Mitgliedern, bedeuten. So wird es kaum überraschen, dass ich diesem Punkt nicht zustimmen kann. Sicher wäre die Arbeit viel professioneller möglich, wenn Juristen, Unternehmensberater und „Menschen mit viel Einfluss und Führungserfahrung“ das Board stellen würden. Jedoch würde der Verein dann eine Entwicklung nehmen, die ich nicht gutheißen kann.
Wikimedia Deutschland wurde von aktiven Wikipedianern gegründet, und darf sich meines Erachtens nicht zu einer weiteren beliebigen Lobby-NGO entwickeln. Wer sich auf diesem Gebiet engagieren möchte, kann dies sicher sehr gut bei tollen Organisationen wie Digitale Gesellschaft e. V., Open Knowledge Foundation, iRights oder anderen tun.

Der Sonntag war bestimmt von einem Vorab-Ergebnis des Chapters Dialogue, verschiedenen Evaluations-Möglichkeiten (SWOT-Analyse, SMART goals usw.), sowie von einer sehr interessanten Auswertung einer Befragung der Teilnehmer nach ihren Erfahrungen und BurnOut-Gefährdungen. Diese wurde durchgeführt von der tollen Sandra Rientjes, Geschäftsführerin von Wikimedia Niederlande.
Das war für mich auch der interessanteste Teil der ganzen Veranstaltung: Der tatsächliche Erfahrungsaustausch zwischen den einzelnen Chaptern sollte unbedingt intensiviert werden. Das hilft meiner Meinung nach viel mehr als jedes Coaching durch Profis oder noch so ausgefeilte Interviews und Analysen – am besten lernen wir von uns selbst und die durch uns bzw. unsere Kollegen gemachten Erfahrungen.

Schockiert hat mich allerdings an diesem Wochenende die Aussage einer prominenteren Wikimedianerin über den Sinn des Movements und die Rolle der Chapter an sich: Wenn wir freies Wissen kaufen können, dann sollten wir es tun. Wenn wir die Communitys dazu nicht brauchen, dann sollten wir eben die Communitys vergessen. Oder auch wörtlich zitiert: „Fuck the community, who cares“. Das lies mich dann doch sehr sprachlos und entsetzt zurück, komme ich doch aus eben dieser. Und es ist auch der Grund, warum dieser Bericht erst so spät kommt. Ich denke seit dem immer wieder darüber nach, was eigentlich Sinn und Zweck von Wikimedia Deutschland ist.

Nun könnte ja durchaus auch ich völlig falsch liegen, und wäre dann schlicht im falschen Verein. Die Kernfrage lautet also: Ist das Wikimedia-Movement im Allgemeinen und Wikimedia Deutschland e. V. im Speziellen in erster Linie dazu da, Freie Inhalte zu generieren, zu sammeln und zugänglich zu machen, oder aber die Freiwilligen bei diesen Aufgaben zu unterstützen? Es gibt da in der Tat sehr unterschiedliche Ansichten dazu, extremer als ich es je erwartet hätte. Auch der Vorstand unseres Vereins hat zu diesem Punkt eine entgegengesetzte Meinung zu der meinen.
Also habe ich begonnen, dies systematisch zu analysieren: Beginnen wir bei der Wikimedia Foundation: In den FAQ unter wikimediafoundation.org ist dazu zu lesen:

Our mission is to empower a global volunteer community to collect and develop the world’s knowledge and to make it available to everyone for free, for any purpose. We work together with a network of chapters in many different countries to achieve this goal.

Also ganz klar steht die Stärkung der Freiwilligen bei der Schaffung und Sammlung Freien Wissens im Vordergrund der Mission, und nicht etwa die Aufgabe, dies selbst zu tun.

Schauen wir als nächstes in die Satzung von Wikimedia Deutschland: § 2 Ziele und Aufgaben beginnt mit

Zweck des Vereins ist es, die Erstellung, Sammlung und Verbreitung Freier Inhalte (engl. Open Content) in selbstloser Tätigkeit zu fördern

Also die Förderung der Erstellung, Sammlung und Verbreitung – nicht das Sammeln an sich, nicht der Lobbyismus, nicht die Aufklärung und Bildung – nein, die Förderung.
Im vergangenen Jahr hat das Präsidium von Wikimedia Deutschland unter großem Aufwand, der Einbeziehung verschiedenster Akteure und höchster Priorität fünf Leitmotive des Vereins erarbeitet und beschlossen, denen sich der Verein in seiner Arbeit verpflichtet fühlt. Die Reihenfolge war dabei wohlüberlegt und keinesfalls zufällig ausgewählt, das Leitmotiv „Partnerschaft“ steht ganz bewusst am Anfang. Darin heisst es:

„Der Verein arbeitet partnerschaftlich mit Communitys und ihren einzelnen Mitgliedern zusammen. Für die Umsetzung ihrer Ideen können sie die Mittel des Vereins unkompliziert nutzen und dessen Angelegenheiten mitgestalten.“

Ohne aktive Communitys ist kein Wikimedia-Projekt lebensfähig. Die Wikimedia-Communitys sind Ursprung und wichtigste Lebensader von Wikimedia Deutschland. Es ist eine der Kernaufgaben des Vereins, Substanz und Wachstum dieser Communitys partnerschaftlich sicherzustellen und zu fördern. Für die Umsetzung der Ideen und Wünsche der Communitys stellt Wikimedia Deutschland all seine Mittel zur Verfügung.

Noch deutlicher kann man es meiner Ansicht nach kaum noch ausdrücken. In erster Linie hat Wikimedia Deutschland, allen voran Vorstand und Mitarbeiter der Geschäftsstelle, die Freiwilligen aus den Communitys zu unterstützen. Dem ist alles andere unterzuordnen.
Natürlich kann und soll der Verein auch andere Aktivitäten durchführen, Veranstaltungen zu politischen Rahmenbedingungen, freien Lehrmitteln (OER) und vielen anderen satzungsgemäßen Themen sind sinnvoll und gewollt. Aber eben erst in zweiter Linie – oberste Priorität hat die Förderung der Freiwilligen, danach kommen die Aktivitäten, die von den bezahlten Mitarbeitern der Geschäftsstelle selbst geplant, organisiert und durchgeführt werden.

Leider ist dieses Faktum in Vergessenheit geraten, und wird den vielen neuen und wirklich tollen Mitarbeitern nicht mehr (ausreichend) nahe gebracht. Es muss wieder allen Beschäftigten, vom Vorstand über die Bereichsleiter bis zu den studentischen Mitarbeitern deutlich gemacht werden, dass die Geschäftsstelle zur Unterstützung der Freiwilligen geschaffen wurde, und nicht die Freiwilligen die Pläne der Geschäftsstelle umzusetzen haben.
Ich denke nur unter dieser Voraussetzung ist eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten – Communitys, Mitgliedern, Präsidium, Vorstand und Mitarbeitern – möglich. Und nur wenn dieses Grundverständnis akzeptiert wird, ist es überhaupt sinnvoll, die Frage der Rollendefinition anzugehen.

 
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Verfasst von - 2014/04/05 in Wikimedia